Schluss mit lustig! Russland und die NATO
»Wir waren uns einig, dass nicht die Absicht besteht, das NATO-Verteidigungsgebiet auszudehnen nach Osten. Das gilt übrigens nicht nur in Bezug auf die DDR, die wir da nicht einverleiben wollen, sondern das gilt ganz generell.«
Hans-Dietrich Genscher, Bundesminister des Auswärtigen, am 2. Februar 1990 in einer gemeinsamen Presseerklärung mit James Baker, U. S. Secretary of State, nach dem Treffen der beiden Außenminister in Washington, das in die deutsche Wiedervereinigungserzählung als "Startschuss für 2+4-Verhandlungen" einging.
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In diesem Video habe ich die Statements zum Verzicht auf eine NATO-Osterweiterung dokumentiert:
https://www.youtube.com/watch?v=B1e6ibDXcGw
Den Hintergrund dieser Erklärung beschreibt die Bundesregierung so: "Nun müssen die anderen drei Mächte noch einverstanden sein. Am schwierigsten ist es, Moskau von dieser Formel zu überzeugen." Das heißt, der Verzicht auf eine Osterweiterung der NATO war für die Sowjetunion die Prämisse, die conditio sine qua non, um überhaupt in die 2+4-Verhandlungen einzutreten.
https://www.bundesregierung.de/.../startschuss-fuer-2-4-verhandlungen-354006
Am 23.12.2021 fand die Große Pressekonferenz des Präsidenten der Russländischen Föderation statt. Nachdem der präsidiale Pressesprecher Dmitri Sergejewitsch Peskow sie mit einem herzlichen "Давайте Скай Ньюз" dazu aufforderte, fragte Diana Magni, die Korrespondentin von Sky News, Putin dies:
»Können Sie bedingungslos garantieren, dass Sie die Ukraine oder einen anderen souveränen Staat nicht wirklich angreifen, oder hängt das vom Verlauf der Verhandlungen ab? Und noch eine Frage. Was glauben Sie, was der Westen an Russland oder Ihren Absichten nicht verstehen kann?«
Putin antwortete unter anderem dies:
»Wir haben daher deutlich gemacht, dass eine weitere Bewegung der NATO nach Osten inakzeptabel ist. Was ist hier nicht verständlich? Stellen wir Raketen an den Grenzen der Vereinigten Staaten auf? Nein. Es sind die Vereinigten Staaten mit ihren Raketen, die zu uns gekommen sind, sie stehen vor unserer Haustür. [...] Keinen Zentimeter nach Osten - das hat man uns in den 90er Jahren gesagt. Und nun? Wir wurden getäuscht. (1) Einfach dreist belogen: fünf Wellen der NATO-Erweiterung.« [...]
Sich explizit auf Magnis zweite Frage beziehend antwortete Putin:
»Wissen Sie, was er versteht - was er nicht versteht: Ich glaube manchmal, wir leben in einer anderen Welt. Ich habe Ihnen nur die offensichtlichen Dinge gesagt - wie kann man das nicht verstehen? Sie sagten: Wir wollen nicht expandieren. Und sie expandieren. Sie sagten: Es wird gleiche Garantien für alle im Rahmen einer Reihe von internationalen Abkommen geben. Aber diese gleiche Sicherheit gibt es nicht. Sehen Sie, 1918 sagte einer der Berater von Woodrow Wilson, des Präsidenten der Vereinigten Staaten: "Die ganze Welt wäre ruhiger, wenn es anstelle des heutigen riesigen Russlands einen Staat in Sibirien und vier weitere Staaten im europäischen Teil gäbe." 1991 haben wir uns in 12 Teile geteilt, nicht wahr? Unsere Partner haben jedoch den Eindruck, dass dies nicht ausreicht: Ihrer Meinung nach ist Russland jetzt zu groß, weil die europäischen Länder selbst zu kleinen Staaten geworden sind - keine großen Imperien, sondern kleine Staaten mit 60 bis 80 Millionen Einwohnern. Aber auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, wo wir nur noch 146 Millionen haben, ist das zu viel. Ich denke, das ist die einzige Erklärung für diesen konstanten Druck.« [...]
»Und dann begannen sie, die NATO nach Osten zu erweitern. Natürlich sagten wir: "Tut das nicht, ihr habt uns versprochen, das nicht zu tun. Aber sie sagen zu uns: "Wo steht das auf dem Papier? Das war's, geht weg, eure Bedenken sind uns völlig egal." (2) Und das Jahr für Jahr. Jedes Mal, wenn wir einknickten, versuchten, etwas zu verhindern, unsere Bedenken äußerten. "Nein, geht weg mit euren Anliegen, wir werden tun, was wir für richtig halten." (3) Eine, zwei, drei, vier, fünf - fünf Wellen der Expansion. Woran liegt es also, dass sie uns nicht verstehen? Ich weiß es nicht. Sie fragen, was hier nicht verstanden wird. Ich denke, es ist klar: Wir wollen unsere Sicherheit gewährleisten.«
Quelle (ру) http://kremlin.ru/events/president/news/67438
Quelle (en) http://en.kremlin.ru/events/president/news/67438
Nicht nur formal, sondern auch inhaltlich betrachtet sind diese Sätze weit über das gewöhnliche Maß hinaus bemerkenswert. Aus Putins Worten spricht - entgegen seinen üblichen und bisher bekannten Gepflogenheiten - Wut, wenn nicht gar Zorn, was die kommentierenden Leit- und Qualitätsmedien des Wertewestens natürlich als Aggressivität bewerten. An einigen Stellen geht Putin, auch das ansonsten unbekannt von ihm, bis hart an die Grenze zum russischen Mat, ich habe diese Stellen (1 bis 3) moderat übersetzt. Aber das "надули", das ich mit "wir wurden getäuscht" übersetzt habe (1), kann man eher als "wir wurden verarscht" lesen - und die Russen werden das tun. Dasselbe gilt für "плевать мы хотели на ваши озабоченности", von mir übersetzt als "eure Bedenken sind uns völlig egal" (2). Das heißt exakter "wir spucken auf eure Bedenken" und "идите вы подальше" - übersetzt als "geht weg" (3) - dürften die Russen als "verpisst euch" oder "fickt euch selbst" lesen.
Was bedeutet das in der Konsequenz? So ganz ausgemacht ist das noch nicht, aber man sollte oder muss Putins Worte mit dem - freilich martialischen - Aufmarsch föderaler Streitkräfte nahe der ukrainischen Grenze zusammendenken, der sich nun doch als groß angelegtes Manöver herausstellte und nicht als de facto schon vollzogene Invasion, wie der Wertewesten anhand der von Desinformationspraktikanten hingeschluderten Skizzen aus Langley zu wissen glaubte. Offensichtlich ist für Putin und die föderale Administration Schluss mit lustig, denn was in den Leit- und Qualitätsmedien des Wertewestens praktisch unerwähnt blieb, war der dem russischen Manöver vorausgegangene Großaufmarsch des ukrainischen, in jüngster Zeit mit 2 Mrd. USD hochgerüsteten Militärs an den Grenzen zu den Volksrepubliken Donezk und Lugansk. Es war die ukrainische Regierung, die eine militärische Lösung des Donbass-Konflikts ankündigte inklusive expliziter Forderung nach der militärischen Eroberung der Krim. Es war die ukrainische Regierung, die zu diesem Zweck in der Ukraine eine extrem nationalistische propagandistische Kampagne zum Kampf gegen Russland und die russischen Streitkräfte inklusive der Prognose eines gloriosen Sieges lostrat, nachdem man im Vorfeld alle noch verbliebenen russischsprachigen oder als "russlandfreundlich" geltenden Medien abgeschaltet oder verboten hatte. Auch davon konnte man im Wertewesten wenig bis nichts lesen.
Ich vermute, diese Gesamtsituation unter Einbeziehung der medialen, teils russophoben Kampagnen der Medien des Wertewestens inklusive der Sabotageversuche gegen Nord Stream 2 lassen Putin und seine Adminstration eine Art Neuauflage der als "Tonkin-Zwischenfall" bekannten, bewusst provokativen Falschinformation oder - drastischer formuliert - des Gleiwitz-Szenarios zwecks Provokation eines militärischen Konflikts befürchten. Es ist nicht anzunehmen, dass die USA und die NATO - von einzelnen Vertragspartnern wie Litauen und Estland abgesehen - tatsächlich einen solchen Konflikt wünschen. Das liegt nicht an deren vermeintlicher bzw. behaupteter Friedfertigkeit, sondern an dem Umstand, dass die sich nach dem Afghanistan-Disaster - gegen bärtige Kämpfer in Pluderhosen, mit seltsamen Kopfbedeckungen und Kalaschnikows, die zum erheblichen Teil noch aus der Zeit der sowjetischen Invasion stammen - noch immer die Wunden lecken und dass das geostrategische und militärische Hauptaugenmerk der USA seit Trump der Volksrepublik China und dem pazifischen Raum gilt. Wahrscheinlicher ist ein Alleingang der Ukraine in der Annahme, die USA und die NATO bzw. eine neue "Koalition der Willigen" nötigen oder de facto erpressen zu können, sich in den so inszenierten Konflikt einzumischen und sich auf der Seite der Ukraine daran zu beteiligen.
Offensichtlich hatte man zwar nicht in den Leit- und Qualitätsmedien des Wertewestens, wohl aber in der NATO den Schuss gehört und so sah sich der NATO-Generalsekretär Stoltenberg gehalten, noch am Abend desselben Tages gegenüber DPA auf Putins Aussagen zu reagieren:
»Die Nato hat nie versprochen, sich nicht zu erweitern. Es steht sogar im Gründungsvertrag unserer Organisation, dass jeder europäische Staat Bündnismitglied werden kann. Zweitens gibt es Dokumente aus den 70er, aus den 90er Jahren - die Schlussakte von Helsinki, die Charta von Paris, die Nato-Russland-Grundakte und eine Vielzahl weiterer Verträge -, die klar machen, dass jeder Staat frei über sein eigenes Schicksal bestimmen kann.«
Nun könnte man anhand solcher Beispiele wie Vietnam, der Zerschlagung der Bundesrepublik Jugoslawien und Libyens sowie der Invasionen in Afghanistan und in den Irak ein wenig erörtern, wie das Recht der "freien Selbstbestimmung" der Völker über das eigene Schicksal in der Praxis seitens der USA und ihrer politischen und militärischen Vasallen gehandhabt wird - von zahllosen Putschen und Putschversuchen, Black Ops, CIA-Operation und Black Sites in aller Welt gar nicht zu reden. Aber ich verzichte an dieser Stelle darauf.
An Stoltenbergs Aussage ist richtig, dass laut Gründungsakte "jeder europäische Staat Bündnismitglied werden kann". Man kann zwar trefflich darüber streiten, ob Kanada und die Türkei zu Europa gehören, der europäische Teil der Türkei macht gerade mal drei Prozent der Gesamtfläche des Landes aus. In der Gründungsakte steht jedoch nicht, dass die NATO jedem Beitrittswunsch entsprechen MUSS - was für jeden Verein jeder Art dieser Welt gilt. Richtig an Stoltenbergs Aussage ist auch, dass die NATO als solche in der Tat nichts versprochen hat - weil sie es gar nicht konnte bzw. kann. Das tut das North Atlantic Council als politisches, den Parlamenten der Mitgliedsstaaten verpflichtetes Gremium. Stoltenberg tut allerdings so, das ist ein beliebtes Rechtfertigungsmuster der offensiv gestimmten Transatlantiker, als wäre die NATO eine sich selbst konstituierende und aus sich selbst heraus legitimierende, quasi metapolitische und metaexekutive Organisation jenseits nationaler und parlamentarischer Entscheidungsgremien und -prozesse. Der Mann hat eindeutig zu oft zu viele "Avengers"-Filme geguckt und sieht die Legitimation der NATO offensichtlich in der der Avengers - "Wir tun es, weil wir es können".
Jens "Iron Fist" Stoltenberg führte weiter aus: »Der frühere Sowjetpräsident Michail Gorbatschow hat selbst gesagt, dass das Thema der NATO-Osterweiterung vor der deutschen Wiedervereinigung nicht zur Sprache gekommen sei.« Das allerdings ist ein unverschämte Lüge - noch einmal zur Erinnerung: »Eine Ausdehnung des NATO-Gebietes nach Osten kann und darf nicht stattfinden.« (Genscher am 9. Februar 1990 im Heute-Journal)
Am 24.12.2021 äußerte sich Gorbatschow in Bezug auf Stoltenbergs Statement gegenüber der Nachrichtenagentur РИА Новости folgendermaßen:
»Wie kann man in einer solchen Situation auf gleichberechtigte Beziehungen zu den USA und dem Westen zählen? Das ist der erste Punkt. Zweitens und nicht weniger wichtig ist die triumphalistische Stimmung im Westen, insbesondere in den USA. Arroganz und Selbstüberschätzung sind ihnen in den Kopf gestiegen. Sie erklärten den Sieg im Kalten Krieg. Aber wir haben die Welt gemeinsam aus der Konfrontation herausgeholt, aus dem nuklearen Wettlauf. Nein, die "Gewinner" beschlossen, ein neues Imperium aufzubauen. Daraus entstand die Idee der NATO-Erweiterung.«
https://ria.ru/20211224/vysokomerie-1765258270.html
Auch wenn sie den eigentlichen Kern der Sache trifft, ist diese Aussage Gorbatschows - wie all seine anderen zu diesem Thema auch - reichlich larmoyant und einmal mehr vermeidet er tunlichst, seine damalige Verantwortung für den Stand der Dinge einzugestehen. Gorbatschow und sein Außenminister Eduard Amwrosijewitsch Schewardnadse, ein georgischer Parteifunktionär ohne jede außenpolitische und Auslandserfahrung, waren - je nach Sichtweise - so naiv oder so dämlich, einem Trickster wie Baker und einem ausgebufften Politprofi wie Genscher zu vertrauen, die jeder schon mehr Verhandlungspartner über den Tisch gezogen hatten als eine russische Babuschka Häkeldeckchen über Kissen und diverse Möbelstücke. Mit Andreij Andrejewitsch Gromyko, dem am 2. Juli 1989 verstorbenen Vorgänger von Schewardnadse, der Gromyko im Juli 1985 ablöste, wäre das nicht passiert. Gromyko hatte schon mit Kennedy Chruschtschows Kuba-Poker, den ABM-Vertrag, sowie die Verträge SALT I und II, INF und START verhandelt, er war der Architekt der sowjetischen Seite der Entspannungspolitik. Gromyko hätte garantiert das getan, was Gorbatschow und Schewardnadse in ihrer vertrauensseligen Naivität nicht taten - er hätte sich das schriftlich geben lassen.
Irgendjemand hat Stoltenberg wohl gesagt, dass warme Worte offensichtlich nicht mehr reichen und deshalb verkündete der NATO-Generalsekretär schon am 25. Dezember seinen Wunsch nach zügiger Einberufung des seit geraumer Zeit auf Eis gelegten NATO-Russland-Rates und bot dabei gleich einen Termin für den 12 Januar 2022 an - Russland hatte Ende Oktober sogar seine NATO-Vertretung in Brüssel geschlossen.
https://www.deutschlandfunk.de/stoltenberg-fuer-zuegige-wiederbelebung...
Nachtrag:
Weil er in den Leit- und Qualitätsmedien unerwähnt bleibt, hier der Aufruf ranghoher deutscher Militärs und Diplomaten sowie einer Professoren politischer Wissenschaften - allesamt Transatlantiker - mit dem Titel "Raus aus der Eskalationsspirale! Für einen Neuanfang im Verhältnis zu Russland":
https://www.johannes-varwick.de/rauf/AUFRUF_Raus-aus-der-Eskalationsspirale...
Wer sich dafür interessiert, kann Genschers seinerzeitige Sichtweise hier nachlesen: Genscher, Hans-Dietrich: Erinnerungen. Goldmann Verlag GmbH, München 1997. ISBN-13: 978-3442127597, im Kapitel "Zwei plus Vier, insbesondere auf den Seiten 714f. und 786ff.
Bildquelle:
Matt Wuerker: U.S. spheres of influence. 04.03.2014 https://politi.co/3rDdljD
Matt Wuerker bei Politico https://www.politico.com/staff/matt-wuerker