Beobachtungen in Zeiten des Krieges
Furchtbare Ereignisse zeitigen seltsame Reaktionen bei den Zeitgenossen, insbesondere seitens jener, die auf warmen Sofas sitzen und das Internet verstopfen, wie Maria Archipowa es ausdrückte. Ich habe einige gesammelt.
Vorläufige Stellungnahme zum Krieg in der Ukraine
Reaktionen russischer Musiker auf den Krieg
Texte zum Konflikt zwischen NATO und Russländischer Föderation im Vorfeld des Konflikts (in zeitlicher Reihenfolge):
Das Märchen von einer ukrainischen Nationalgeschichte - die Fakten
The Grand Chessboard - USA vs. Russland. Nuland, die Thinktanks und Biden
The Grand Chessboard - USA vs. Russland. Idioten, Imperialisten und Geostrategie
Ost-Erweiterung - Lebenslüge der NATO und des Westens
Schluss mit lustig! Russland und die NATO
Beobachtung 1
Es ist mal wieder eine Zeit der Bekenntnisse angebrochen. Beide Seiten verlangen eine eindeutige und explizite Stellungnahmen, anderenfalls ist man ihr Feind. In politischer Hinsicht bin ich - wie gegen jeden anderen auch - gegen diesen Krieg, das habe ich auch so formuliert. Ich bin aber nicht FÜR die Ukraine. Ich kann kein explizites Bekenntnis für die eine oder andere Seite abgeben - und das genügt den Bekenntniseinforderern beider Seiten nicht. Es genügt nicht dass ich in menschlicher Hinsicht den Krieg für eine entsetzliche Katastrophe für alle Beteiligten halte.
Nun hatte mir schon mein seinerzeit mir zugedachter Inoffizieller Mitarbeiter des MfS in einem Bericht vom 11.11.1981 an seinen Dienstherrn eine "klassenindifferente Position" bescheinigt, womit er zum Ausdruck brachte, dass ich weder die DDR-typische Sozialismusvariante noch die westdeutsche Demokratievariante für politisch akzeptabel hielt und ein eindeutiges Bekenntnis vermissen ließ, das man damals in der DDR "Klassenstandpunkt" nannte. Heute formuliere ich diese Haltung mit Jegor Letows Worten "Я всегда буду против!" (Ich werde immer dagegen sein!) und Philipp Freiherr von Boeselagers Familienwahlspruch "Etiam si omnes, ego non" (frei übersetzt: Auch wenn alle mitmachen, ich nicht) - was mit schöner Regelmäßigkeit zu meinem dritten Wahlspruch führt: "I am the designer of my own catastrophes." Was für mich heute allerdings und eingestandenermaßen nicht wirkliche Katastrophen wie beispielsweise mein Zwangsaufenthalt auf dem Chemnitzer Kaßberg (MfS-Untersuchungshaftanstalt) und im Cottbusser Zuchthaus 1982/83 nach sich zieht, sondern nur noch zu Ärgerlich- und Missliebigkeiten.
Beobachtung 2
Es hat in Deutschland die Zeit der dritten diskursiven Spaltung im 21. Jahrhundert begonnen. Die erste fand während der sogenannten Flüchtlingskrise 2015/2016 und dem Aufstieg der AfD statt, die zweite mit Beginn der COVID-19-Pandemie ab Anfang 2020 - beide haben sich tief in den gesellschaftlichen Diskurs eingegraben und Familien und Freundschaften teils unversöhnlich gespalten. Für mich hatte die beiden ersten Spaltungen keine zwischenmenschlichen Konsequenzen, weil es 2015 genügte, sich ohne explizite Bewertung auf den Verweis möglicher Konsequenzen zu beschränken - zumal diese dann auch eintrafen - und weil es 2020 akzeptiert wurde, dass ich mich unter Verweis auf (tatsächlich) mangelnde Fachkenntnis auf eine pragmatisch-prophylaktische Privatstrategie zurückzog, die ich bis heute praktiziere, mich aber ansonsten weiterführender Statements enthielt und enthalte.
2022 ist das anders, eine "klassenindifferente Position" wird nicht mehr akzeptiert, jetzt wird ein eindeutiges, unhintergehbar letztbegründetes (Wolfgang Kuhlmann) Bekenntnis eingefordert, und das von beiden Seiten. Das hat zur Folge, dass ich einerseits nun persona non grata in den beiden letzten Facebook-Gruppen von Russlandfreunden bin, in denen ich Mitglied war, mich andererseits aber auch gehalten sah, mich nach einer längeren Debatte aus einer über 20-jährigen Bekanntschaft, Freundschaft zurückzuziehen - vielleicht war es letztlich ein 20 Jahre andauerndes Missverständnis.
Wie dem auch sei - das wechselseitige Unverständnis und die daraus resultierende Missbilligung von der anderen Seite für meine Position, die keine wirkliche war (und noch keine ist), sondern Ausdruck meiner Ratlosigkeit angesichts dieser Katastrophe, war und ist - wie auch in den o.e. russlandfreundlichen Facebook-Gruppen - unüberbrückbar.
Beobachtung 3
In den Kommentierungen in den diversen Leit- und Qualitätsmedien, sowohl in der geedruckten als auch virtuellen Variante, auch in den TV-Kanälen von ZDF, Phoenix, Welt, Bild und N24 fällt mir immer wieder ein mitschwingender Unterton, mitunter ein Subkontext unverhohlener Häme und Schadenfreude auf, der in den diversen Kommentarspalten hier und anderenorts seitens der nun zahllosen, selbsternannten Geostrategen gerne auch explizit formuliert wird: Endlich mal kein Tonkin-Zwischenfall, den es nicht gab, endlich mal keine angeblichen Weapons of mass destruction, die nicht existierten, endlich mal nicht die USA und die CIA! Endlich zeigt der Russe als solcher sein "wahres" Gesicht!
Nicht in den Medien, aber in den Kommentierungen schwingt hierzulande offensichtlich (noch) leise und quasi (noch) im Hinterkopf die in Westdeutschland immer präsente Überzeugung mit, dass der "Führer" wohl doch irgendwie nicht ganz unrecht hatte mit seinem vielleicht doch präventiven Angriff auf die UdSSR. Letzteres wird in gewissen, historisch tätigen Kreisen ganz und gar nicht leise und allen Ernstes als "Präventivkriegsthese" "wissenschaftlich" diskutiert, aufgebracht 1981 unter dem Pseudonym Viktor Suworow durch den Überläufer Wladimir Bogdanowitsch Resun. Bisher war das weitestgehend indiskutabel, jetzt kriecht dieser revisionistische Dreck offenbar langsam durch die Risse im gesellschaftlichen Diskurs ans Tageslicht. Es ist widerlich.
Beobachtung 4
Immer wieder lese ich in den letzten Tagen in den sogenannten sozialen Medien die Ansicht, der Konflikt sei das Problem eines alten Mannes, dieses oft in Kombination mit dem Adjektiv "weiß", womit natürlich Putin gemeint ist. Das ist so knalldämlich, so dermaßen strunzdumm, dass ich mich gehalten sehe, eine Worst-Dictators-Liste zu verfassen. Spoiler: Sie ist durchaus coloured.
- Adolf Hitler war 44 Jahre alt, als er Reichskanzler wurde, Heinrich Himmler war 34, als er Reichsführer SS wurde und Hermann Göring war 40, als er preußischer Innenminister wurde.
- Benito Mussolini war 39, als er sich mit dem "Marsch auf Rom" an die Macht putschte.
- Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili aka Stalin war 44, als er Generalsekretär der KPdSU wurde. Lawrenti Pawlowitsch Berija war 39 Jahre alt, als er Volkskommissar des Inneren der UdSSR wurde, also Chef des NKWD und Herr über die Gulags.
- Enver Hoxha war 36, als er Generalsekretär des ZK der Partei der Arbeit Albaniens wurde. Noch heute widmen sich die Genossen der MLPD dem Studium seiner Schriften, neben denen Stalins natürlich.
- Nicolae Ceaușescu war 47, als er Vorsitzender des rumänischen Staatsrates wurde.
- Francisco Franco war 44, als er sich 1936 in Spanien als Diktator an die Macht putschte.
- Muammar al-Gaddafi war 27, als er sich zum Staatsoberhaupt Libyens putschte.
- Saddam Hussein war 42, als er sich zum Staatspräsidenten des Irak ernannte.
- Saloth Sar aka Pol Pot war 47, als er sich zum "Bruder Nr. 1" der Roten Khmer in Kamboscha kürte und deren mörderisches Regime etablierte mit ca. 2 Millionen ermordeten Kambodschanern (lt. Rote-Khmer-Tribunal Kambodscha) - von 8 Millionen!
- Jean-Bédel Bokassa war 45, als er sich als Präsident der Zentralafrikanischen Republik einsetzte und 55, als er sich zum Kaiser Bokassa I. krönte.
- François Duvalier war 50, als er Präsident Haitis wurde, Jean-Claude "Baby Doc" Duvalier war 20, als er seinem Vater in dieses Amt folgte.
- Last but not least - Idi Amin war 43, als er sich zur "His Excellency, President for Life, Field Marshal Al Hadji Doctor Idi Amin Dada, Victoria Cross, Distinguished Service Order, Military Cross, Lord of All the Beasts of the Earth and Fishes of the Seas and Conqueror of the British Empire in Africa in General and Uganda in Particular" ernannte.